Reportagen
Überwindung des Hasses durch Solidarität – die Geschichte von L
L kommt aus dem Libanon. Er verbrachte seine Kindheit in einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt Beirut. Als junger Mann studierte er an der Universität von Beirut und wirkte während der Studienzeit und danach vor allem in der Hauptstadt als Theaterpädagoge, Regisseur, Philosoph. Ein auf ihn verübtes Attentat während des Bürgerkrieges im Libanon (1975 - 1990) trieb L 1989 in die Flucht. Heute lebt L in der Schweiz. Er ist 60 Jahre alt. Und das erzählt er über sein Leben und Wirken im Libanon und in der Schweiz:
(Aufgezeichnet von Trudi Dinkelmann für die Reihe „Menschen auf der Flucht“ auf der Gemeindeseite von Kriens im Reformierten Kirchenboten, ein Ausschnitt dieser Geschichte erschien im Kirchenboten vom September 2016)
Bei meiner Geburt litt meine Mutter an schwerer Tuberkulose. Sie war so schwach, dass sie mich nicht stillen und pflegen konnte. Zahlreiche Freundinnen meiner Mutter übernahmen diese Aufgaben. Ich bin diesen Müttern bis heute dankbar, dass sie mir durch ihre Solidarität das Überleben sicherten. Solidarität wurde zum Leitmotiv für meine Lebensphilosophie und alle meine Aktivitäten.
Meine leibliche Mutter war für mich eine prägende Persönlichkeit gewesen. Sie stammte aus einer aristokratischen Familie, war eine sehr gebildete Frau und gehörte zu den so enannten Weisen des Ortes, wo ich aufwuchs. Auch ich sollte ein gebildeter Mensch werden und ein Studium absolvieren. Meine Eltern hätten gerne gesehen, dass ich Scheich (Geistlicher) oder Richter würde. Meine Schwestern durften keine Schule besuchen. Mädchen sollten dienende Töchter, Schwestern, Ehefrauen sein und Kinder gebären. Die meisten Eltern befürchteten damals, dass Töchter durch Schulbildung auf moralische Abwege geraten könnten. Auf Geheiss der Eltern sollten meine beiden älteren Schwestern mir stetsdienen, weil ich ein Junge war. Diesen Dienst liess ich nicht zu. Unterwürfigkeitsverhältnisse widerstrebten mir schon sehr früh.
Mein Widerstand löste Konflikte in der Familie aus. Immer war ich auch ein kritischer Schüler und Student, oft lautstark nicht einverstanden mit dem, was ich in der Schule oder an der Universität von den Lehrern und Professoren zu hören bekam. Gewisse Interpretationen aus dem Koran, welche die Lebenspraxis bestimmen und das eigene Denken und Handeln behindern oder ausschalten sollten, lehnte ich ab.
Ich las sehr viel, beschäftigte mich mit philosophischen und naturwissenschaftlichen Büchern, die grosse intellektuelle Herausforderungen waren. Ich liebte Diskussionen zu grundsätzlichen Lebensfragen wie: Was ist die Wahrheit? Wie gelingt Friede? Welche Potenziale hat die Liebe? Lässt sich weltweite Integration realisieren? An der Universität in Beirut studierte ich Philosophie, Pädagogik, Psychologie, und Naturwissenschaften. Aus den Erkenntnissen dieser Studien entwickelte ich 1984 - es war mitten im libanesischen Bürgerkrieg - zusammen mit acht anderen Mitgliedern des „mouvement philosophique“ die Bewegung und Philosophie „Insanyoun“. Sie gründet auf der Idee, dass jeder Mensch Zwilling jedes anderen Menschen ist, bzw. ich finde mich in jedem anderen Menschen als
mein anderes Ich. Bei diesem Verständnis des menschlichen Seins entwickelt jeder Mensch Respekt vor und Solidarität zu jedem anderen Menschen, egal ob Differenzen bestehen hinsichtlich Herkunft, Mentalität, Kultur, Religion, Geschlecht etc. Respekt und Solidarität sind grundlegende Voraussetzungen für Frieden unter Menschen.
Schon während der Studienzeit schrieb ich - ohne einer Partei anzugehören - unter verschiedenen Pseudonymen für verschiedene linke libanesische Zeitungen Beiträge über alle Themen, die mich beschäftigten. Dazu gehörten Überlegungen zu den Wurzeln von Bürgerkriegen, zu den Folgen repressiver Pädagogik, zur Überwindung von Hass durch Solidarität, etc. Für das Radio verfasste ich Hörspiele, arbeitete als Theaterpädagoge und führte Regie bei Theatergruppen, deren Theateraufführungen sich mit Themen aus dem Lebensalltag zu Zeiten des Bürgerkriegs, insbesondere mit religiösem und politischem Fanatismus und dessen erschütternden Folgen auseinandersetzten. Ich war auch Schauspieler in der Hakawati Theatergruppe, die im Libanon und im Ausland internationale Preise gewann.
Im libanesischen Bürgerkriegsalltag musste ich mitansehen, wie Tausende aufgrund von Fanatismus und Hass starben. Ich hatte die Vision, dass Menschen durch das Theater eine Alternative zum Krieg kennenlernen können, Zusammenhänge verstehen lernen, und dadurch Mentalitäten sich langfristig ändern können. Die Theaterstücke zeigten u.a. auch auf, welche verflochtenen Interessen hinter Kriegen stecken. Die Zeche dafür müssen Abertausende von Menschen immer wieder mit dem Leben bezahlen. Ich hoffte, dass meine Theaterarbeit den politischen und religiösen Fanatismus in den Köpfen der Menschen beschwichtigen, die Menschen auf lebensfreundlichere Gedanken bringen könnte. Nach jeder Theateraufführung fanden bewegte Publikumsdiskussionen zum Theaterstück
statt. Ich arbeitete mit vielen Schauspielern und Schauspielerinnen.
Die meisten Männer des Theaterensembles gehörten der nationalen Pfadfinderbewegung an, deren Leiter ich war. Die Theatergruppe entwickelte die Theaterstücke selber. Dabei regte ich sie zum eigenständigen kritischen Denken an. Eigenständiges kritisches Denken ist für mich eines der pädagogisch wichtigsten Ziele, das ich bis zum heutigen Tag anstrebe, sei es, wenn es um meine Kinder, meine Schülerinnen und Schüler, mein soziales Umfeld oder um irgendeine Lebensgemeinschaft oder um Theater geht. Im Libanon schuf ich mir viele Feinde, weil die Theaterstücke während des wütenden libanesischen Bürgerkriegs zur Überwindung des Hasses durch Solidarität unter Menschen aufriefen, weil ich Frauen in den Theaterstücken mitwirken liess und ihnen eigenes Denken zumutete, und weil ich immer ein laut denkender kritischer Mensch war.
Ich bin so geblieben. Der libanesische Bürgerkrieg hatte den zuvor weltoffenen Libanon in ein rückwärtsgewandtes Land verwandelt. Kritische Geister, welche in jener Zeit der Politik und den Menschen neue Denkimpulse gaben, waren des Lebens nicht mehr sicher.
Nonkonformismus wurde abgestraft. Ich war schon in jungen Jahren im Libanon eine national sehr angesehene Person, gleichermassen aber auch umstritten. Eines Tages wurde auf mich ein Attentat verübt. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie die Absicht gehabt, den Libanon zu verlassen. Ich sah meine Aufgaben in meinem Heimatland Libanon. Nun musste ich diesen Schritt dennoch tun. Ichwollte leben, zu wichtig war mir, der Bewegung und Philosophie „Insanyoun“ zum Durchbruch zu verhelfen. Ich hoffte, dass dies aus dem Exil möglich werden würde.
1989 erhielt ich für vier Monate ein Touristenvisum für die Schweiz. Dieses Land war mein Ziel, weil zu dieser Zeit viele Menschen, die vor dem Bürgerkrieg im Libanon geflohen waren, sich in der Schweiz aufhielten. Ich wollte möglichst viele von ihnen aufsuchen, ihre Sorgen und Nöte kennenlernen und ihnen für Perspektiven in dieser Situation Impulse geben.
Bei diesen Besuchen und einer Reise durch die Schweiz traf ich u.a. auf einen Landsmann, der mich als Theaterpädagogen in Erinnerung hatte und mich bat, hier in der Schweiz mit dem Erarbeiten und Aufführen von Theaterstücken fortzufahren. Ich lernte auch einen Schweizer kennen, der von meiner Theaterarbeit gehört und daran Interesse hatte. Er sah im
Theaterspiel die Möglichkeit, die Schweizer Bevölkerung über fremde Mentalitäten aufzuklären.
Schon damals zeichnete sich ab, dass immer mehr Menschen aus dem arabischen Raum in der Schweiz eintreffen würden und dies zu Konflikten zwischen Einheimischen und Zugewanderten führen könnte. Aufklärung, warum nicht alle Menschen auf der Welt im Gleichklang ticken, war nach Ansicht des Schweizers vernünftig und ein Gebot der Stunde. Ich entwarf auf dessen Anregung hin ein Theaterprojekt für die Schweiz. Doch mein Touristenvisum lief schon bald ab. Schweizer Freunde versuchten, für mich eine Aufenthaltsbewilligung B zu bekommen, weil das entworfene Theaterprojekt auch umgesetzt werden sollte. Diese Aufenthaltsbewilligung erhielt ich nicht. Ich reiste zurück in den Libanon.
1990 musste ich erneut aus dem Libanon ausreisen, weil ich dauernder Verfolgung ausgesetzt war. Über Italien gelangte ich nach Chiasso, wo ich einen Asylantrag stellte. Mein Wunsch, in einer Asylunterkunft in der Innerschweiz unterzukommen, wurde mir nach kurzer Zeit erfüllt. Von Anfang an versuchte ich, mit arabisch sprechenden Mitbewohnern in der Asylunterkunft über unsere Situation als Asylsuchende, über unsere Perspektiven konstruktiv nachzudenken, statt in Stumpfheit und Resignation zu verfallen und darin zu verharren. Die Philosophie „Insanyoun“ stand bei diesem Vorhaben Patin. Doch das Vorhaben misslang.
Gemeinsames Nachdenken verunsicherte die meisten meiner Mitbewohner. Sie waren nicht gewohnt, trauten sich auch nicht zu, eigenständig auf Fragen Antworten zu suchen, Neues zu denken und Gedanken auch noch vor andern Menschen zu äussern. Einige hielten mich für einen libanesischen Spitzel. Bei meinem ersten Aufenthalt in der Schweiz hatte ich viel gelernt über dieses Land und die Menschen, die in der Schweiz lebten. Diese Informationen gab ich meinen Mitbewohnern weiter, und dafür waren sie dankbar.
Nach wenigen Wochen kam ich in eine andere Asylunterkunft, in der hauptsächlich Geflohene aus dem Libanon und Sri Lanka untergebracht waren. Es gab dort viele Probleme. Einige Mitbewohner hatten wegen Diebstahls und Drogenhandels mit der Polizei zu tun. Ich versuchte, diese Menschen für ein gemeinsames Nachdenken über die Situation Asylsuchender zu gewinnen. Wir sprachen dabei auch über die Gefahr, bei Delinquenz nur negative Zukunftsperspektiven zu haben.
Diesmal gelang es, mit den Mitbewohnern konstruktive Denk- und Handlungsansätze zu entwickeln. Mein Einsatz für die Minimierung von Problemen, welche Asylsuchende verursachen können, war für die Leitung und das Personal der Asylunterkunft eine Hilfe. In dieser Zeit engagierte mich die Caritas als Kursleiter von Weiterbildungsanlässen für das Personal von Asylunterkünften. Themenschwerpunkt bei diesen Weiterbildungen war immer der philosophische Hintergrund von Integration. Nebst dieser Beschäftigung konnte ich das eine und andere Theaterprojekt an verschiedenen Orten in der Schweiz realisieren.
Heute bin ich Schweizer Bürger. Ich bin meiner „Zwillingsheimat“ Schweiz und allen Menschen, denen ich hier begegnet bin, sehr dankbar für alles, was ich bekommen habe. Ich lebe mit Familie in Kriens. Ich würde gerne weiterhin als Theaterpädagoge arbeiten und dabei u.a. Denkanstösse geben, was in einer multikulturell und multireligiös zusammengesetzten Gesellschaft das gute Miteinander ermöglicht. Noch hat sich dieser Wunsch leider nicht erfüllt.
Die Bewegung und Friedensphilosophie „Insanyoun“ stelle ich auf einer Webseite
und auf Facebook zur Diskussion. Viele Menschen aus der ganzen Welt, die arabisch lesen und schreiben können, reagieren auf meine im Internet veröffentlichten Aufsätze und Thesen mit viel Zustimmung. Das Internet ermöglicht diesen schriftlichen Diskurs. Das Bedürfnis nach Frieden ist gross, ganz besonders auch in der arabischen Welt. Die Wege zum Frieden in der Welt sind schwierig, bedürften des weltweitem politischen Willens und sind auch mit viel Kleinkleinarbeit, d.h. tausenden Verständigungsgesprächen unter Menschen verbunden. Mit dem Blog auf meiner Webseite versuche ich, meinen Beitrag zu einer friedlicheren Welt zu leisten und zu Schritten hin zu den Utopien Solidarität, Integration und Friede.
Hymne der Seele
Meine Seele ist ohne Mauern
mein Raum ist ohne Grenzen
und um meine Gärten baue ich keine Zäune
Ob der Freundschaft zwischen den Schmetterlingen und den Blumen
lächelt meine Seele
Und picken die Vögel von den Trauben meines Weinberges,
so flattert mein Herz voller Freude
Für jenen, der des Weges kommt, habe ich meinen Tisch gedeckt,
das Herz meines Kruges ist prall gefüllt, überschäumend vor Liebe,
und wartet auf jene, die durstig sind
Und wenn die Winde voller Anfeindungen stürmen
so können mich die Verleugnungen der Betrüger nicht erschüttern;
Die Liebe zu Dir, Oh Du, mein anderes Ich,
wird immer das Fundament sein, auf dem ich bleibe,
und mein Herz wird immer ein Tempel mit offenen Türen für die Irrenden sein
Um dem Freund die Hand zu schütteln,
reiche ich ihm meine Hand, wie den Zweig einer Palme
Und treffe ich auf einen, der respektlos ist,
so sind meine Waffen Worte, wie Lilien, die ich ziehe
ohne Zorn und ohne Groll
Wut und Hass werden sich meinem Kelch niemals nähern
Und niemals werde ich mich am Wein der Täuschung berauschen
Und niemals werde ich zu den Melodien der Scharfmacher tanzen,
auf dem Platz der Aufwiegelung
Die Melodie meines Herzens wird schlagen
zum göttlichen Rhythmus, strahlend, in den Weiten des Universums
in den Hymnen der Liebe
in den Schnäbeln der Vögel
in den Trauben des Guten
Zu allen Jahreszeiten
Für jene, die in den kommenden Zeiten geboren werden
pflastere ich die Strassen mit meinen Knochen
und zeichne Wegzeichen mit meinem Blut
In einer Welt, mit der das Chaos seine Scherze treibt,
in der sich Egoisten an ihren grausamen Spielen ergötzen
Dem Nebel wird es nicht gelingen,
mir den Glauben an die Sonne auszutreiben
Und die Nacht wird mich nicht täuschen,
mit ihrem Beharren auf unendlicher Herrschaft
Selbst dann nicht, wenn sie versuchen würde,
mich zu bestechen mit dem Mond und seinem magischen Licht
oder mit falschen Versprechen
von strahlenden Sternen, die nichts erleuchten.